Mauerbau und Machtelite (2024)

Die Forschung zum Mauerbau konzentrierte sich bisher auf die internationale Konfliktlage im Externer Link: Kalten Krieg." Den innenpolitischen Auswirkungen des Mauerbaus in der DDR und insbesondere den dadurch hervorgerufenen Verschiebungen in den Machtverhältnissen zwischen der Bevölkerung der DDR und der SED-Führung wurde dagegen weniger Aufmerksamkeit geschenkt. Deshalb soll im folgenden Beitrag diskutiert werden, welche kurzfristigen Änderungen der Mauerbau für das Verhältnis der SED-Führung zur Bevölkerung der DDR und umgekehrt bedeutete. Denn mit dem Bau der Mauer, so die These, veränderte die SED ihre Herrschaftsgrundlage in der DDR. Mit dem Mauerfall am 9. November 1989 löste sich diese Grundlage wieder auf. Es gab nun kein vergleichbares Instrument der Herrschaftssicherung mehr.

Souveränität und Legitimität als Probleme der SED

Als Motiv der SED für den Mauerbau wurde bisher unhinterfragt vermutet, dass sie die Fluchtbewegung habe eindämmen wollen. Das dürfte tatsächlich eine wesentliche Rolle gespielt haben, greift aber in der Beschreibung des Begründungskontextes zu kurz. Mit der Grenzschließung in Berlin reagierte die SED-Führung um Walter Ulbricht nicht nur auf das Fluchtproblem, die damit im Zusammenhang stehende latente Wirtschaftskrise in der DDR und die politische Konfliktsituation, die durch das Ultimatum von Nikita Chruschtschow 1958 hervorgerufen worden war. Sie versuchte darüber hinaus ein Souveränitätsdefizit auszugleichen, das sich in ihrer Wahrnehmung als Ergebnis des Zweiten Weltkrieges und der Teilung Deutschlands darstellte.

Dieses Problem resultierte jedoch auch aus der unzureichenden Legitimität der SED-Herrschaft, die sich weder auf eine politische Konsensbildung in der Bevölkerung noch auf eine Realisierung der von ihr in Aussicht gestellten materiellen Wohlfahrt im Sozialismus berufen konnte. Diese sich gegenseitig bedingenden Defizite an Legitimität und Souveränität allerdings erschwerten der SED die von ihr angestrebte Durchherrschung der Gesellschaft und schränkte zusammen mit der Fluchtbewegung ihren Zugriff auf die Bevölkerung ein.

Die Souveränitätsdefizite betrafen vor allem vier Bereiche. Zunächst war die territoriale Souveränität der DDR eingeschränkt. Der Viermächtestatus von Berlin führte dazu, dass im Territorium der DDR die westdeutsche Enklave West-Berlin lag, die den drei Westmächten unterstand. Die durch interalliierte Vereinbarungen geschaffenen Zugangswege nach Berlin wurden von den drei Westmächten benutzt, ohne dass die SED-Führung dem zugestimmt hatte oder ihr auch nur ein Mitspracherecht eingeräumt wurde. Die drei Korridore zwischen Westdeutschland und West-Berlin, auf denen sich fremdes Militär ohne ihren Einfluss oder ihre Kontrolle bewegte, stellten eine Einschränkung ihrer Hoheit über das Territorium der DDR dar.

Aufgrund der gemeinsamen Überwachung des Berliner Luftraums durch die vier Siegermächte besaß sie zudem keine Lufthoheit in ihrem Territorium. Weiterhin besaßen die drei Westalliierten nicht klar definierte und umstrittene Rechte in Ost-Berlin, der Hauptstadt der DDR, darunter das Recht auf freien und unkontrollierten Zugang. Schließlich bestanden als Relikt des Weltkrieges die westalliierten Militärverbindungsmissionen zu den sowjetischen Streitkräften fort, deren Besatzungen sich in der ganzen DDR nahezu ungehindert bewegen konnten. Damit besaßen fremde Mächte originäre Rechte auf dem Territorium der DDR, die weder von deren Staatsführung konzediert waren noch ihrem Einfluss unterlagen.

Zweitens hatte die KPD die Macht nach Kriegsende nur in dem von der Sowjetunion besetzten Teil Deutschlands erringen können und war dort von deren Unterstützung abhängig. Die DDR war von der Sowjetunion zwar im September 1955 aus dem Besatzungsstatut entlassen worden und mit Übernahme der „vollen Souveränität“ endete die Tätigkeit des Sowjetischen Hochkommissars Wladimir S. Semjonow. Die SED-Führung gewann damit Handlungsspielräume gegenüber der östlichen Führungsmacht, blieb aber von ihr abhängig. Die staatliche Existenz der DDR und die Macht der SED darin mussten bis 1989 von der Sowjetunion und ihrer Militärmacht garantiert werden. Dies wiederum hing mit dem bereits erwähnten Legitimitätsproblemen zusammen, wegen derer die SED zur Durchsetzung der Staatlichkeit nach innen, gegenüber der Bevölkerung der DDR, in der gesellschaftlichen Praxis letztlich ebenfalls auf sowjetische Machmittel angewiesen war, wie sich am 17. Juni 1953 gezeigt hatte. Die sowjetische Staats- und Parteiführung behielt sich im Gegenzug ein deutlich fühlbares Mitspracherecht vor. Dieses konnte in bestimmten Situationen, wie im Streit um den deutschlandpolitischen Kurs der Sowjetunion nach dem Tode Stalins deutlich geworden war, durchaus die Möglichkeit einschließen, um des eigenen Vorteils Willen die staatliche Existenz der DDR in Frage zu stellen.

Drittens wurde die Souveränität der SED in der DDR wie überhaupt ihre Existenz als selbständiger Staat international nicht anerkannt. Außerhalb des Ostblocks fand die DDR erst nach dem Mauerbau und dann mit den Ostverträgen langsam diplomatische Anerkennung. Dies hing damit zusammen, dass aufgrund der fehlenden Legitimität der SED-Diktatur die westdeutsche Regierung beanspruchte, auch die Bewohner der DDR staats- und völkerrechtlich zu vertreten. Der Alleinvertretungsanspruch der Bonner Regierung stand zwar auf wackligem Fundament, weil sie ebenfalls nicht von den Bewohnern Ostdeutschlands gewählt worden war, konnte international jedoch in den 1950er Jahren aufgrund der wesentlich größeren Wirtschaftsmacht der Bundesrepublik auch außerhalb des westlichen Bündnisses durchgesetzt werden.

Viertens hatte sich durch die Fluchtbewegung bis 1961 etwa ein Sechstel der Bevölkerung dauerhaft dem Zugriff der SED entzogen, wodurch ihr Legitimitätsproblem zu einem Dauerthema der internationalen, vor allem aber der westdeutschen Presse wurde. Die Reaktionen der Partei- und Staatsbürokratie auf die Republikflucht, insbesondere die Kriminalisierung der Flüchtlinge, das Grenzregime und die Anweisung, auf Flüchtlinge zu schießen, deuten darauf hin, dass die SED-Führung die Fluchtbewegung nicht nur als Verlust dringend benötigter Arbeitskräfte auffasste, sondern als eine Form von Widerstand und damit letztlich als massenhafte Rebellion gegen die Autorität der SED in der DDR. Nur so ist es zu erklären, dass sie an der Grenze Militär, nämlich die militarisierte Grenzpolizei und später die aus ihr hervorgegangenen Grenztruppen, gegen die eigene Bevölkerung einsetzte, und dass sie den nahezu bedingungslosen Einsatz von Schusswaffen gegen Bürger des eigenen Landes anordnete – Maßnahmen, die Staaten üblicherweise nur dann ergreifen, wenn sich Menschen gegen die Obrigkeit erheben.

Schließlich bedeutete schon die Möglichkeit zur Flucht in der Sichtweise der SED-Führung eine Beschränkung ihres Zugriffs auf die Bürger der DDR: Jede drakonische innenpolitische Maßnahme konnte ein erneutes Ansteigen der Fluchtbewegung auslösen und musste deshalb wohlerwogen werden. Der Migrationsdruck nach Westen schränkte somit die Gestaltungsmöglichkeiten der SED in der DDR nicht unerheblich ein. Viele Bewohner nutzten dies im Alltag, um in Verhandlungen mit Funktionären und Behörden durch die latente Fluchtdrohung Entgegenkommen in Einzelfragen zu erreichen. Das werden gerade an der Basis, an der Schnittstelle zwischen Staat und Bevölkerung, einige Funktionäre schmerzlich als Beschränkung ihrer persönlichen Macht empfunden haben.

Die Beschränkung staatlicher Souveränität stellte sich der SED-Führung als Einschränkung ihrer Macht in der DDR dar. Deshalb erhoffte sie, nachdem Chruschtschow mit seinem Ultimatum 1958 die Berlin-Frage wieder auf die Tagesordnung gesetzt hatte, nicht nur ein Ende der Fluchtbewegung, sondern weit darüber hinausgehend eine grundsätzliche Festigung ihrer Position in der DDR. Dazu gehörte die Erwartung, mit dem erhofften Abzug der Westmächte aus Berlin nach Abschluss eines Friedensvertrags ihr Souveränitätsdefizit ausgleichen zu können – nach innen wie nach außen. Deshalb begriff sie den Mauerbau – nicht nur in der Propaganda – zunächst vor allem als Schlag gegen „den Westen“ und die Bundesregierung.

Propaganda, Legitimierung und Siegeseuphorie

Für die Grenzschließung setzte die SED-Führung 1961 neben Polizei, Militär und Staatssicherheit auch den Parteiapparat in Bewegung. Die Propagandamaschine der Partei lief noch in der Nacht zum 13. August an, nachdem die Genossen der Bezirks- und Kreisleitungen aus den Betten geklingelt worden waren. Bereits am 13. August und in den folgenden Tagen organisierten sie in der ganzen DDR Versammlungen und „Aussprachen“ in Betrieben, Wohngebieten und Hausgemeinschaften, um die Bevölkerung über die Grenzschließung und die Motive der SED zu unterrichten.

Wie die Abteilung Parteiorgane beim ZK der SED reklamierte, seien die meisten Bürger der DDR innerhalb der ersten Woche, zumeist noch am Montag, von Funktionären der SED „durch Versammlungen und Foren gründlich über die Maßnahmen der Regierung informiert“ worden, bevor, wie derselbe Bericht hervorhebt, „der Feind überhaupt gewahr wurde, was geschehen war“. Die meisten Bewohner der DDR erfuhren somit, nachdem sie vermutlich erste Meldungen im Westradio gehört hatten, von SED-Funktionären, dass und warum die SED die Grenzen der DDR für Ostdeutsche geschlossen hatte. Gleichzeitig wurde ihnen mitgeteilt, wie dies propagandistisch begründet wurde und welche Folgen sich daraus nach Ansicht der SED für das Leben in der DDR ergeben sollten.

Mit dieser Propagandakampagne verfolgte die SED-Führung zunächst eine Politik der Einschüchterung. Sie und die Parteiführung der KPdSU hatten befürchtet, bei einer Grenzschließung könnten sich Ereignisse wie am 17. Juni 1953 wiederholen und ein Teil der DDR-Bevölkerung könne sich dagegen erheben. Durch die offensive Propaganda sollten „Provokateure“ und „negative Elemente“ davon abgehalten werden, den in der Bevölkerung verbreiteten Unmut zu artikulieren.Unterstützt wurde die Propaganda durch Polizeimaßnahmen, die Mobilisierung der Staatssicherheit und justizielle Repression. Über spontanen und lokal begrenzten Protest hinausgehende Demonstrationen wurden dadurch erfolgreich unterbunden. Die SED versuchte eine Legitimierung der Grenzschließung durch die Bevölkerung herbeizuführen, indem Funktionäre sie als notwendige Reaktion auf eine von Westdeutschland ausgehende Bedrohung darstellten. Aus diesem Grund hatte die SED-Führung im August 1961 die Angehörigen der Kampfgruppen an einigen bildintensiven Stellen der Stadt in den Blickpunkt der westlichen Kameras gestellt und sich damit auf ein Bildprogramm zur propagandistischen Repräsentation des Mauerbaus festgelegt.

Dies sollte die Suggestion stützen, das Volk der DDR habe sich mit dem Mauerbau selbst verteidigt. Mit derselben Begründung nötigten sie auf den Versammlungen die Anwesenden, die „Maßnahmen“ ausdrücklich zu billigen. Sie mussten in großem Umfang zustimmende Erklärungen unterschreiben, die als Huldigungs- oder Solidaritätsadressen an die Staatsführung gesandt wurden. Die Unterschriften unter die von den Funktionären vorformulierten Solidaritätserklärungen für die Regierung wurden zumeist unter massivem Druck geleistet. Mit ihnen versuchte die SED der Grenzschließung durch abgenötigte Akklamation nachträglich einen Anschein von Legitimität zu verleihen.

Angesichts der Tatsache, dass die Bevölkerung der DDR mit dem Mauerbau überrumpelt worden war, weitgehend auf lautstarke Proteste verzichtete, sich in den einberufenen Versammlungen in der großen Mehrheit passiv verhielt und die gewünschten Zustimmungen erteilte, verfiel die SED nach dem 13. August – und zwar sowohl die Führung als auch die Basis – einem Macht- und Siegesrausch. In einigen Berichten lesen sich die Darstellungen der Grenzschließung und der Reaktionen der Bevölkerung darauf ein wenig, als habe die SED gerade einen Krieg gewonnen.

Diese Siegeseuphorie richtete sich zunächst auf Westdeutschland als denjenigen Staat, den die SED öffentlich für eine Vielzahl der Probleme der DDR und insbesondere für die Abwanderung verantwortlich gemacht hatte und den man nun in seine Schranken gewiesen zu haben glaubte. Der eigenen ideologischen Begründung folgend, feierte der Parteichef Walter Ulbricht die Grenzschließung im August als Sieg über Westdeutschland:

"...Die Arbeiter und mit ihnen alle ehrlichen Werktätigen der Deutschen Demokratischen Republik atmen erleichtert auf. Das Treiben der Westberliner und Bonner Menschenhändler und Revanchepolitiker hatten alle satt. [...] Unsere Geduld wurde von den Bonner Militaristen für Schwäche angesehen. Ein peinlicher Irrtum, wie sich inzwischen erwiesen hat..."

Die Erwähnung der vermeintlichen Schwäche der DDR verweist auf das Motiv der prekären staatlichen Hoheit in der DDR als Motiv für den Mauerbau. Der Verteidigungsminister der DDR, Heinz Hoffmann, sekundierte ihm auf der Tagung der Verteidigungsminister des Warschauer Pakts im September 1961 und betonte in diesem Zusammenhang den Zugewinn an Souveränität:

"Seit dem 13. August 1961 wurde an den Grenzen der Deutschen Demokratischen Republik einschließlich der Grenze zu Westberlin eine solche Ordnung und Kontrolle eingeführt, wie sie an den Grenzen jedes souveränen Staates üblich ist.Mit unseren Maßnahmen ist die Deutschlandfrage aus dem Nebel der westlichen Propaganda und des kalten Krieges herausgekommen."

In einer für die Bundesrepublik gedachten Propagandabroschüre heißt es, den „Politikern und der Bevölkerung Westdeutschlands“ sei mit dem Mauerbau das „wirkliche Kräfteverhältnis“ in Deutschland „ins Bewußtsein gebracht“ worden. In der offiziellen Wahrnehmung der SED war in der bestandenen „Kraftprobe” mit dem Westen die Souveränität der DDR nach außen durchgesetzt worden. Die SED meinte, der Weltöffentlichkeit deutlich gemacht zu haben, dass die Regierung der DDR deren Unantastbarkeit unter allen Bedingungen wahren würde. Diese Lesart war nicht der Propaganda vorbehalten, sie war für die SED-Führung zentral. Am 19. September stellte das Politbüro fest, „daß nach dem 13. August eine Änderung der Situation in Westdeutschland eingetreten ist. Den Bonner Revanchisten wurde ein ernster Schlag versetzt. Die von der Bonner Regierung bis jetzt vertretene revanchistische Politik ist am 13. August gescheitert.“

Parallel zu der bereits im August in kollektiver Selbstüberzeugung zustande gekommenen Wahrnehmung, man habe Bonn mit der Mauer in die Schranken verwiesen, entstand die rechtfertigende Darstellung, man habe mit der Mauer eine von der Bundesrepublik ausgehende Kriegsgefahr eingedämmt. Beispielhaft brachte das Albert Norden bei einem Besuch bei der Bereitschaftspolizei in Berlin etwa zehn Tage nach dem Mauerbau zum Ausdruck: „Unser Stacheldraht, unsere Mauern kesseln die Kriegstreiber ein, sind ein Wall für den Frieden. Ihr steht an der Grenze zwischen Krieg und Frieden.“

Damit war in der Euphorie des Sieges die Grundlage für das propagandistische Narrativ entstanden, die noch heute in Rechtfertigungs- und Traditionsschriften bemüht wird, die DDR habe mit dem Mauerbau in gerechtfertigter Selbstverteidigung einen entscheidenden Beitrag zur Eindämmung einer vom Westdeutschland und von West-Berlin ausgehenden Kriegsgefahr und zur Erhaltung des Weltfriedens geleistet.

Konsolidierung der Macht und innenpolitischer Klimawandel

Der in der SED formierten Machtelite der DDR war bewusst, dass sich die Autorität der SED gegenüber der DDR-Bevölkerung durch den Mauerbau deutlich festigen werde. Wie Erich Honecker im Juni 1962 formulierte, waren mit der Mauer „weitere günstigere Bedingungen für den entfalteten Ausbau des Sozialismus“ geschaffen worden.

Damit war allerdings die Drohung verbunden, dass die SED den Konformitätsdruck erhöhen und ihre Zumutungen gegenüber der Bevölkerung mit deutlich größerem Nachdruck als bisher durchsetzen werde. Ulbricht formulierte dies in einer Rundfunk- und Fernsehansprache am 18. August 1961 in aller Schärfe:

"...Es wird nun noch eine Weile in der Hauptstadt der DDR und ihrer näheren Umgebung Leute geben, die sich durch den Westberliner Frontstadtsumpf haben beeinflussen und – sprechen wir das ganz offen aus – haben verderben lassen. Manche Jugendliche z.B. haben die ehrliche Arbeit verlernt. Manche Leute haben seit Jahren keine ehrliche Arbeit mehr angefaßt. Diesen Menschen muß man helfen, wieder ehrlich zu werden und sich an geregelte Arbeit zu gewöhnen. Das liegt in ihrem Interesse. [...] Ich möchte hoffen, daß jeder, den das angeht, meine Worte gut versteht. Wir sind entschlossen, bei uns mit allen Nachwirkungen des Frontstadtsumpfes reinen Tisch zu machen...".

Der unverhohlenen Drohung, die in diesen Worten zum Ausdruck kommt, folgten bald Taten. Die bereits erwähnten Versammlungen, auf denen SED-Funktionäre die Grenzschließung propagandistisch begründeten, dienten gleichzeitig dazu, die Bevölkerung auf die geänderten Machtverhältnisse einzustimmen. Dies geschah unter anderem durch die Bedrohung derjenigen, die ihre Unterschrift verweigerten. Darüber hinaus wurde die ausdrückliche Billigung des Mauerbaus in Betriebsversammlungen verknüpft mit einer Zustimmung zum gleichzeitig ausgerufenen „Produktionsaufgebot“. Bürger der DDR mussten sich schriftlich verpflichten, künftig für dasselbe Geld mehr und effizienter zu arbeiten. In den Betrieben wurde die Produktivitätsschraube angezogen, indem die SED Normen und Arbeitszeit bei gleichbleibenden Löhnen erhöhte. Gleichzeitig hob sie die Preise für Konsumgüter an. Der Ausbau staatlicher Macht und der intensivere Zugriff der SED auf die Bevölkerung blieben nicht auf die Wirtschaft als einem der wichtigsten gesellschaftlichen Bereiche beschränkt. Dem Mauerbau folgte ein umfassendes Programm, mit dem Verweigerer und Dissidenten in die geordnete Gesellschaft der DDR eingefügt werden sollten. In der Landwirtschaft wurde die Kollektivierung abgeschlossen, indem die letzten Verweigerer genötigt werden, sich in die LPGs einzufügen.

Bei der Rekrutierung für das Militär wurden die Jugendlichen enormem Druck ausgesetzt und die SED führte, als selbst das nicht ausreichte, im Januar 1962 die Wehrpflicht ein. Unangepasste Jugendliche und andere Bürger gerieten unter stark wachsenden Konformitätsdruck. Die ehemaligen Grenzgänger wurden mit Zwangsmaßnahmen in die Staatswirtschaft eingegliedert und für andere, die sich ihr entziehen wollten, wurde ein strafbewehrter Arbeitszwang eingeführt. Außerdem wurden an der innerdeutschen Grenze erneut Zwangsumsiedlungen vorgenommen; außerdem auch erstmals in Berlin. Die Neuformierung des Verhältnisses zwischen Machtelite und Bevölkerung wurde sekundiert durch eine breite Welle strafrechtlicher Repression. Die Flucht in den Westen als Möglichkeit, sich dem SED-Staat zu entziehen, war 1961 nahezu gänzlich unmöglich geworden. Die mit dem Mauerbau einhergehende Verschärfung des Grenzregimes führte zunächst zu einer deutlich höheren Zahl von Todesopfern. Die SED verdeutlichte den Bürgern diese Verschärfung, insbesondere nachdem Willy Brandt die Grenzer im September aufgefordert hatte, nicht auf ihre Mitbürger zu schießen, indem sie in den SED-Zeitungen von Grenzsoldaten unterzeichnete Erklärungen publizieren ließ, in denen sie versicherten, auf jeden Fall von der Schusswaffe Gebrauch zu machen. Auch wenn nicht alle innenpolitischen Strategien der SED langfristig so erfolgreich waren, wie ihre Führung das im August 1961 geplant hatte, so verminderte sich doch mittelfristig republikweit der Spielraum für Aushandlungsprozesse der Bürger mit dem Staats- und Parteiapparat und der individuelle Konformitätsdruck stieg erheblich. Der Mauerbau zwang technische Eliten wie einfache Arbeiter und Bauern, sich für ihr weiteres Leben in die von der SED in der DDR errichtete soziale Ordnung einzufügen und sich in darin einzurichten. Sie mussten sich mental auf die Forderungen der SED einstellen und sich mit deren Zumutungen arrangieren.

Viele Bewohner Ostdeutschlands erkannten bereits in den ersten Tagen nach dem Mauerbau, dass das innenpolitische Klima der DDR einer radikalen Wandlung unterlag. Die veränderte Situation spiegelt sich in zahlreichen „feindlichen” Äußerungen wieder, die vom MfS akribisch gesammelt und von der Parteimaschinerie ausgewertet wurden. Ein Einwohner von Berlingerode drückte das – in der Zusammenfassung einer Denunziantin – so aus: „auf Grund der Maßnahmen in Berlin müsse jetzt jeder den Mund halten. Es bestehe keine Freiheit mehr. Wenn man was sagt, wird man verhaftet.“ Ein Bewohner des Grenzgebiets an der innerdeutschen Grenze, dessen Äußerung in einer Gastwirtschaft protokolliert wurde, brachte die neue Situation auf einen für ihn verständlichen Punkt: „Wir leben wie unter Hitler, unter der gleichen Diktatur.“ Der Philosoph Ernst Bloch, der sich im August 1961 in Westdeutschland aufhielt, kehrte gar nicht erst nach Leipzig zurück. Er schrieb über seine Gründe, die sich aus dem innenpolitischen Wandel ergaben, an den Präsidenten der Akademie der Wissenschaften:

"...Nach den Ereignissen des 13. August, die erwarten lassen, daß für selbständig Denkende überhaupt kein Lebens- und Wirkungsraum mehr bleibt, bin ich nicht mehr gewillt, meine Arbeit und mich selber unwürdigen Verhältnissen und der Bedrohung, die sie allein aufrechterhalten, auszusetzen. Mit meinen 76 Jahren habe ich mich entschlossen, nicht nach Leipzig zurückzukehren..." Dieser durch Druck erzeugte Wandel des innenpolitischen Klimas blieb im Parteiapparat nicht unbemerkt. Bereits im August liefen Berichte ein, in denen Parteikader diese Veränderung des sozialen Klimas als Festigung der gesellschaftlichen Konformität beschrieben. Lokale Funktionäre erlebten die Phase nach dem Mauerbau als eine, in der sich Menschen in wachsendem Ausmaß in das von der SED definierte soziale Ordnungsgefüge einfügten und ihre Bereitschaft zur Konformität erkennen ließen. Die ZK-Abteilung Parteiorgane berichtete kurz nach dem Mauerbau an Honecker: „Schwankende Teile der Intelligenz, Bauern und Mittelschichten sehen jetzt realer das wahre Kräfteverhältnis und beginnen, sich aktiver am sozialistischen Aufbau zu beteiligen.“

Verteidigungsminister Hoffmann interpretierte die größere Bereitschaft zur Konformität als deutliche Verbesserung der Bedingungen sozialistischer Massenmobilisierung: „Seit dem 13. August 1961 haben wir auch hier bedeutsame Fortschritte in der Erziehungsarbeit unter der Bevölkerung erzielt. Im Bewußtsein und der Aktivität der Werktätigen vollzieht sich ein großer Aufschwung.“ Der General der Staatssicherheit Bruno Beater sprach von einer „Festigung“ der DDR, die durch weiterhin hohe Fluchtzahlen nicht gefährdet werden dürfe.

Auch auf dem Land hatte man die veränderten Bedingungen verstanden. Schon am 20. August konnte die Abteilung Parteiorgane Honecker erste Erfolge melden: „Zahlreiche Genossenschaftsbauern, die sich mit dem Gedanken des Austritts beschäftigten, haben jetzt ihre Bereitschaft erklärt, ihre ganze Kraft für die genossenschaftliche Arbeit einzusetzen.“ Die Bevölkerung der DDR begann notgedrungen, sich der von der SED errichteten sozialen Ordnung weiter anzupassen.

Gewaltexzesse

Dieser Bewusstseinswandel in der Bevölkerung ist mit Mitteln intensiver Propaganda, justizieller Repression und dauerhaftem politischem Druck herbeigeführt worden. Hatten lokale Funktionäre der SED, der Massenorganisationen und der Verwaltung sich bis 1961 wegen der latenten Drohung mit dem Weggang in ihrer Machtausübung beschränken müssen, nahmen sie nun sehr schnell ihre deutlich erweiterten Durchsetzungschancen wahr. Sie realisierten unter dem Eindruck der von der Parteiführung in Reden und Publikationen verbreiteten Siegeseuphorie, dass sich ihre Machtchancen mit dem 13. August erweitert hatten. Einige Funktionäre steigerten sich in einen regelrechten Machtrausch hinein. Der zeitweise Generalsekretär des DDR-Schriftstellerverbands 1953/54 und SED-Kritiker Gustav Just beschreibt die militante und gespannte Atmosphäre in seinem Tagebuch unter dem 30. August 1961:

Alles sehr bedrückt wegen der Berliner Ereignisse. Linksradikale Abenteurer geben den Ton an, einen rüden, ordinären Ton, Hetze, Druck, Schimpferei. Leute werden verprügelt. Westantennen gewaltsam demontiert. Tausende Jugendliche zur Armee mobilisiert. Jeder Liberalismus abgebaut. Harte Tage, harter Kurs, scharfe Sprache.

Ein weiterer Eintrag vom 26. Oktober unterstreicht, dass das Klima sich nach mehr als zwei Monaten noch nicht entspannt hatte und reflektiert die zunehmende Militarisierung der Gesellschaft, die sich in dieser Phase durchsetzen ließ: Hier alter Kurs, Stalinmethoden, Terror, „in die Fresse schlagen!“ Politischer Druck auf die Schulkinder. Martin ist als einziger in seiner Klasse nicht in die Hundertschaft zur vormilitärischen Ausbildung gegangen, man setzt ihm deshalb ziemlich zu. Ich habe mich auf einer Klassenelternversammlung von Kathrinchen dagegen gewandt, die Kinder mit Tagespolitik zu belasten, aber es wird von Tag zu Tag schlimmer. Die repressive und gewaltsame Tendenz dieser Phase spiegelt sich in der Gründung der sogenannten Ordnungsgruppen der FDJ wider, die der FDJ-Zentralrat am 13. August ins Leben rief. Sie sollten, unter Ausnutzung ihres jugendlichen Idealismus, als Hilfspolizei eingesetzt werden und erhielten in diesem Zusammenhang einen Freibrief zur unmittelbaren Anwendung von physischer Gewalt. Wie es der Zentralrat formulierte, sollten sie:

"...als Helfer und unter Leitung der Volkspolizei besonders in den Städten sichern helfen, daß – weder in Kinos noch in Gaststätten noch anderswo – Provokateure oder Dummköpfe ungestraft ihr Unwesen treiben können; besonders sind Diskussionsgruppen nicht zuzulassen. Mit Provokateuren wird nicht diskutiert. Sie werden erst verdroschen und dann den staatlichen Organen übergeben. Gegen Hamsterer ist vorzugehen. [...] Jeder, der auch nur im geringsten abfällige Äußerungen über die Sowjetarmee, über den besten Freund des deutschen Volkes, den Genossen N. S. Chruschtschow, oder über den Vorsitzenden des deutschen Staatsrats Genossen Walter Ulbricht von sich gibt, muß in jedem Fall auf der Stelle den entsprechende Denkzettel erhalten."

Aus diesem Auftrag erwuchs (vermeintlich) eine Lizenz für offenen und kaum gezügelten Straßenterror. Neben der angestrebten Überwachung und Terrorisierung der Alltagsöffentlichkeit, wie sie aus diesen Passagen deutlich wird, war mit der Einrichtung der Ordnungsgruppen offensichtlich eine Förderung der Denunziationsbereitschaft verbunden, da ihre Mitglieder Fluchtvorbereitungen an die Volkspolizei melden sollten. Es gibt Hinweise, dass hierfür gezielt Mitglieder rekrutiert wurden. Eine junge Sparkassenangestellte sei, so meldete der westdeutsche Verfassungsschutz, zum Eintritt in die FDJ genötigt worden, um dieser jene zu melden, die ungewöhnlich große Geldbeträge abhoben, was als Hinweis auf Fluchtvorbereitungen galt.

Da die Mauer auch deswegen gebaut worden war, um die DDR gegen westliche Einflüsse abzuschirmen, gingen die Blauhemden der FDJ zusammen mit Aktivisten der SED und anderen Freiwilligen unter der Losung „Blitz kontra NATO-Sender” gegen „das ideologische Grenzgängertum” vor, das sich nach Ansicht der SED im Hören und Sehen von westdeutschen Radio- und Fernsehsendern offenbarte. Insgesamt 23.000 Aktivisten spürten in der ganzen DDR Antennen in Privatwohnungen auf, die so eingestellt waren, dass damit westdeutsche Sender empfangen werden konnten. Mitte September berichtete der Zentralrat der FDJ dem Politbüro, allein in vier Kreisen hätten sie über 1.500 „Antennen in Richtung Sozialismus” ausrichten können. Hierbei wurden Wohnungen gewaltsam betreten, Menschen, die sich diesem Ansinnen verweigerten, geschlagen und Empfangsgeräte gelegentlich zerstört. Bei der Rekrutierung für die bewaffneten Organe gingen einige lokale Partei- und FDJ-Sekretäre ebenfalls dazu über, Unwillige zu terrorisieren. Ziel war es, dass sich alle wehrfähigen jungen Männer freiwillig melden sollten, was in öffentlichen Sitzungen erzwungen wurde, wobei sie gelegentlich mit physischer Gewalt zum Unterschreiben gezwungen wurden.

Als z.B. ein unterer Funktionär der FDJ sich in öffentlicher Versammlung standhaft weigerte, die „freiwillige“ Meldung zu unterschreiben, wurde die Diskussion nach zwei Stunden abgebrochen. Drei Tage später wurde er in einer weiteren öffentlichen Versammlung, an der unter anderem die FDJ-Kreisleitung und Kollegen aus seinem Betrieb teilnahmen, nochmals aufgefordert. Als er sich erneut weigerte, wurde er von den anwesenden Männern über eine halbe Stunde lang angebrüllt und mit Prügel bedroht. Als er bei seiner Weigerung blieb, wurde er gewaltsam auf einen offenen Lastwagen befördert und durch die Stadt gefahren. An den Seiten waren die Aufschriften befestigt: „Dieser Provokateur wollte auf Kosten der Arbeiter und Bauern studieren“ und: „Dieser Jugendliche beschimpfte unsere NVA.“ Danach wurde er unter Schlägen am Krankenhaus vom Lastwagen geworfen. Man stellte ihn vor die Alternative, zusammengeschlagen ins Krankenhaus eingeliefert zu werden oder zu unterschreiben, was er nunmehr tat. Nach einigen Monaten erkannten Funktionäre in der SED-Führung die Dysfunktionaliät fortgesetzten offenen Terrors. Einige Funktionäre hatten den Willen der Parteizentrale zur offenen Repression zudem überschätzt und wurden nachträglich wegen „sektiererischer und parteifeindlicher Auslegung der Maßnahmen vom 13.8.61” kritisiert und zur Rechenschaft gezogen. In einem internen Bericht wurde als Beispiel für eine solche Haltung ein Gewerkschaftsfunktionär aus Perleberg beschrieben, der auf einer Versammlung gesagt hatte:

"Wer Westfernsehen sieht und Westrundfunk hört, mit dem wird eine harte Sprache gesprochen. Die Fernsehapparate werden zerschlagen. In Wittenberge wurde das schon durchgeführt. Besonders diejenigen Personen, die im Parterre wohnen, sollen sich vorsehen, sie seien schnell durch die Fenster. Wer nicht bereit ist, zur NVA zu gehen oder zum Reservistenlehrgang, wird eingesperrt. Die Regierung würde noch schärfere Maßnahmen durchsetzen und zu den Arbeitern noch härter sprechen. Wer nicht mitmacht, wird bis zum Abschluß des Friedensvertrages eingesperrt und wer nicht will, bekommt eine Bohne in den Hintern geschossen. Wir machen auch nicht vor Genossen halt. Wer nicht zur Armee will, dem nehmen wir das Dokument ab. "

Dieser Funktionär und sein Vorgesetzter waren, wie viele andere auch, nach Ansicht der SED-Führung über das Ziel hinausgeschossen und wurden mit einer strengen Rüge in die Produktion versetzt. Einige Kader des zentralen Parteiapparats hatten relativ schnell die langfristig verheerende Auswirkung erkannt, die von solchem Verhalten für das Verhältnis zwischen Partei und Bevölkerung ausgehen musste. Horst Sindermann beispielsweise, Leiter der Abteilung Agitation beim ZK der SED, kritisierte das gesteigerte Machtbewusstsein einiger Genossen: „Von manchen Kreisleitungen und Grundorganisationen hatte man in letzter Zeit den Eindruck gehabt, als glaubten sie, daß nach dem 13. August die Administration statt die Überzeugung die Hauptmethode der politischen Arbeit geworden ist.“

Als Beispiel führte er an, dass Parteisekretäre in Wohnungen eingedrungen seien, ohne sich auszuweisen oder zu sagen, weshalb sie gekommen seien, und dort kostenpflichtig Fernsehgeräte so umrüsteten, dass kein Westempfang mehr möglich war. Sindermann bemängelte nicht die Maßnahme selbst, sondern das Unterbleiben der dazugehörenden Belehrung, die eigentlich wesentlicher Bestandteil des pädagogisch ausgerichteten Konzepts der SED-Propaganda sein sollte. Denn solange die SED das langfristige Ziel nicht aufgegeben hatte, die Bevölkerung durch Beeinflussung respektive Erziehung für sich zu gewinnen, so lange musste solch ein Verhalten kontraproduktiv sein, weil es die Bürger weiter dem Staat und der Partei entfremdete, wie einige Funktionäre recht schnell einsahen.

Außerdem teilten nicht alle Mitglieder und Funktionäre der SED die Euphorie nach dem Mauerbau. Die Ablehnung innerhalb der Partei war wahrscheinlich schwach und blieb weitgehend ohne öffentlichen Ausdruck, jedoch hatte die SED Parteiaustritte und Funktionsniederlegungen zu verzeichnen.

Bei parteiinternen Diskussionen wurden vor allem zwei Punkte benannt, mit denen einige Parteimitglieder nicht zufrieden waren. Einige verwiesen auf das martialische Aufgebot an Bewaffneten und Panzern, das am 13. August eingesetzt worden war. Außerdem wurde – anscheinend sehr massiv – kritisiert, dass man künftig nicht mehr in den Westen reisen könne und der Kontakt mit den dortigen Verwandten erschwert werde. Wie sehr die SED ihrem eigenen Apparat nach dem 13. August partiell misstraute, sieht man daran, dass sie in einem sicherheitsempfindlichen Bereich, nämlich im Grenzgebiet an der innerdeutschen Grenze, ab September 1961 einen umfangreichen Austausch der Kader bis hinunter zu den Ortsräten vornahm. Alle leitenden Kader in den Grenzkreisen wurden überprüft und viele ausgetauscht. Wie weit diese Irritationen im Parteiapparat verbreitet waren, lässt sich schwer einschätzen, aber diese Funktionäre müssen den Machtrausch mit Missbehagen beobachtet und versucht haben, ihm gegenzusteuern. Für ihre Bewertung sprach, dass die DDR wie jeder Staat weiterhin auf die Mitwirkung seiner Bürger angewiesen war und diese nicht dauerhaft erzwungen werden kann. Gewaltexzesse im Stil der Nazis, wie sie für kurze Zeit Mode geworden waren, würden sich nicht erst langfristig nachteilig auf die Kooperationsbereitschaft auswirken.

Das galt für die DDR im besonderen Maße, weil die SED mit der Durchsetzung ihrer politischen Ordnungsvorstellungen immer die Hoffnung verbunden hatte, die Bevölkerung würde sich über kurz oder lang schon zu diesen bekehren lassen, wenn man ihnen deren Vorteile nur lange und intensiv genug erklärte. Schließlich bestand die SED weiterhin darauf, dass die von ihr eingeforderte Unterordnung und gesellschaftliche Beteiligung in der von ihr errichteten Gesellschaftsordnung freiwillig, auf Einsicht beruhend und eigentlich mit einer gewissen Begeisterung geschehen sollte.

Kurzfristig jedoch zeigten Siegeseuphorie und Gewaltexzesse zwei erwünschte Resultate. Das erste war eine gewollte Einschüchterung, die sich mittelfristig in Anpassung umformen lassen würde, und das zweite die Abwendung einiger, die vielleicht der SED-Politik distanziert gegenübergestanden, ihr aber nicht grundsätzlich die Legitimität abgesprochen hatten. Aus dem Grenzgebiet beispielsweise, wo die Sicherheitsbehörden auf die lokale Unterstützung für die Verhinderung von Flucht angewiesen waren, kamen alarmierende Meldungen:

"Ein anderer Teil der Einwohner ist zurückhaltend, sie sagten nicht ihre Meinung. Hierbei handelt es sich nicht nur um negative Kräfte, sondern auch um solche, die in der Vergangenheit Mängel sachlich kritisierten. Unter ihnen ist eine gewisse Angst vorhanden, die sich dahingehend äußert: Wer die Wahrheit sagt, wird ausgesiedelt, bzw. auf die Liste für die Aussiedlung gesetzt.

Dem Bestreben einiger örtlicher Funktionäre, ihre gewachsene individuelle Macht unter zeitweiliger Billigung der SED-Führung durch offene Gewalt auszuleben und ihrer neuen Autorität demonstrativ Ausdruck zu verleihen, wurde nach Eingang solcher Meldungen von der Parteizentrale ein Riegel vorgeschoben, um die ohnehin schmale soziale Basis der SED nicht dauerhaft zu vergraulen.

Politische Konsequenzen des Mauerbaus

Die Fluchtbewegung als Beschränkung staatlicher Macht, die westliche Propaganda, die sie nutzte, um die fehlende Legitimität der SED-Herrschaft zu unterstreichen, und das Souveränitätsdefizit fügten sich in der Wahrnehmung der SED zu einem Problemkomplex, den sie mit dem Mauerbau lösen wollte. Letztlich konnte die SED durch den Mauerbau ihre Souveränitätsspielräume gegenüber den Alliierten nicht erweitern. Die Rechte der Westmächte blieben bis 1989 bestehen, nur gaben sie ihre Rechte in Ost-Berlin de facto auf.

Ein Friedensvertrag kam nicht zustande und die SED blieb weiterhin von der Sowjetunion als Garant ihrer Macht abhängig. Jedoch gelang es ihr mittelfristig, das Problem der internationalen Anerkennung zu lösen. Der Mauerbau führte dazu, dass die Regierung der Bundesrepublik ihre Politik der Nichtanerkennung und des Alleinvertretungsanspruchs aufgab. Er motivierte letztlich die Ostpolitik der sozialliberalen Koalition, auf deren Basis Anfang der siebziger Jahre die Ostverträge geschlossen wurden, woraufhin die DDR und die Bundesrepublik 1973 gemeinsam in die UNO aufgenommen wurden.

Innenpolitisch war der Erfolg deutlich größer. Der SED war es gelungen, die Fluchtbewegung auf ein Minimum zu reduzieren, die zwar weiterhin propagandistische Probleme bereitete, aber keine Massenbewegung mehr darstellte. Darüber hinaus konnte sie ihre Macht gegenüber der eigenen Bevölkerung deutlich festigen. Sie hatte die aus der Möglichkeit zur Flucht resultierenden Beschränkungen, die sie als Hindernis in der Durchsetzung ihres Modells von gesellschaftlicher Ordnung wahrgenommen hatte, aufheben können. Die Angst vor einem Wiederaufleben war so groß, dass die SED und das MfS später ein Feindbild konstruierten, in dem die weiterhin existierende Fluchtbewegung und die Antragsteller auf Ausreise zu bedeutenden Staatsfeinden avancierten. In ihrer Wahrnehmung machte insbesondere deren vermutete Zusammenarbeit mit dem äußeren Feind im Westen, dessen kulturelle und politische Einflüsse sie als zielgerichtete „politisch-ideologische Diversion“ auffassten, zu gefährlichen innenpolitischen Gegnern.

Auch wenn diese Angst übertrieben war, lagen SED und MfS damit nicht vollständig falsch. Mit dem Fall der Mauer im November 1989 war ihr Schicksal so endgültig besiegelt, dass die im Herbst begonnene Revolution langsam zu Ende ging.

Trotz einer anfangs partiell schlechten Stimmung selbst in den eigenen Reihen richteten sich Führung und Basis der SED schnell in den durch die Grenzschließung veränderten Herrschaftsverhältnissen ein. Während die SED-Führung daran arbeitete, die Machtverhältnisse in der DDR grundlegend zu ändern, bauten die Funktionäre an der Basis die neuen Spielräume besonders in den Bereichen aus, wo sie unter den Bedingungen der offenen Grenze ihre kleine Macht angesichts der latenten Fluchtdrohung nicht voll hatten ausspielen können. Sie glaubten sich mit dem 13. August von allen bisherigen Beschränkungen im Umgang mit der Bevölkerung befreit, worin sie sich besonders in den ersten Wochen angesichts des Siegestaumels und der Drohgebärden der SED-Führung von dieser unterstützt wähnten.

In dieser Phase schreckten sie selbst vor Formen des Straßenterrors nicht zurück, die an die Übergriffe der SA in der Frühphase der nationalsozialistischen Diktatur erinnern. Die Gewaltexzesse wurden zwar als schädlich bald unterbunden, sie hatten allerdings der Bevölkerung die veränderten Herrschaftsbedingungen in der DDR demonstrativ vor Augen geführt.

Niemand, der in der DDR wohnte, konnte das zugunsten der SED verschobene Machtverhältnis in den folgenden Jahren ignorieren. Auf Dauer war natürlich mit der harten Linie im Wortsinne kein Staat zu machen, gerade in der DDR nicht. Deshalb musste die SED bald die ersten Kompromisse mit der Bevölkerung eingehen – aber das ist eine andere Geschichte. Die Parteiführung hatte ihre Macht in der DDR mittelfristig konsolidieren können. Sie schuf mit der Mauer eine neue Herrschaftsgrundlage, die ein Durchgreifen des Staates ermöglichte und zögernde Teile der Bevölkerung zwang, sich den Vorstellungen der SED von gesellschaftlicher Konformität zu fügen und sich in deren Gesellschaftsmodell einzufügen.

Spätestens ab dem 9. November 1989 funktionierte dieses Machtsystem nicht mehr. Ohne die Mauer fehlte ihm der Halt.

Zitierweise: "Zwischen Siegestaumel und Herrschaftssicherung: Der Mauerbau am 13. August 1961 und die Machtelite der DDR“, Gerhard Sälter in: Deutschland Archiv, 7.11.2019, Link: www.bpb.de/300094

Ergänzend zum Thema: Interner Link: Stasichef Erich Mielkes Fotoalbum vom Mauerbau

Mehr zum Interner Link: Thema Mauerfall

Der Historiker Dr. Gerhard Sälter ist Leiter der Abteilung Forschung und Dokumentation in der Stiftung Berliner Mauer. Von 2012 bis 2015 war er Mitarbeiter der Unabhängigen Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendiensts (BND). Von ihm liegen zahlreiche Veröffentlichungen, u.a. zur Geschichte der DDR und zur Berliner Mauer und zur Geschichte der Geheimdienste und des BND vor.

Mauerbau und Machtelite (2024)

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