Dein SPIEGEL: Erinnerst du dich noch an deinen Chemieunterricht?
Nguyen-Kim: In der Schule war Chemie bei uns eher unbeliebt. Unsere Lehrer haben es nicht wirklich geschafft, Begeisterung zu vermitteln, und die meisten in der Klasse haben sich ziemlich gequält. Ich konnte keinen Leistungskurs wählen, weil er nicht zustande kam. Es waren einfach zu wenige, die Lust hatten. Habt ihr schon Chemie?
Larissa: Ich habe gerade in der 7. Klasse mit Chemie begonnen und bin gespannt, wie es so wird. Ich interessiere mich für Wissenschaft.
Nguyen-Kim: Chemie ist supercool, aber es kommt schon darauf an, wie man es unterrichtet. Ich dachte im Unterricht bei den ganzen Formeln und Zahlen oft: Okay, was hat das jetzt mit meinem Leben und mir zu tun?
Dein SPIEGEL: Wie bist du dann zur Chemie gekommen?
Nguyen-Kim: Ich habe die Liebe zu Chemie von meinem Papa von zu Hause mitbekommen. Er ist Chemiker und kann super kochen. Er hat immer gesagt: Kochen ist Chemie, es ist das gleiche Prinzip: Du nimmst Zutaten, erhitzt sie, rührst sie zusammen, trennst etwas ab und schaust dann, ob es geklappt hat. Zutaten wie Mehl, Eier und Butter verändern beim Backen durch Hitze ihre Form, und am Ende kommt voll das leckere Zeug raus. Das Pulver und der Glibber haben sich verwandelt! So cool. Chemie hat viel mit unserem Alltag zu tun.
Dein SPIEGEL: Du hast einen Doktortitel in Chemie. Kannst du uns erklären, worum es in deiner Doktorarbeit geht? Aber so, dass wir es verstehen und es nicht langweilig ist.
Nguyen-Kim: Okay, ich versuch es mal: Ihr kennt doch Gele, zum Beispiel Haargel oder Wackelpudding. Gele sind nicht flüssig, nicht fest, sondern so ein Zwischending, ein ganz interessanter Zustand. Mit ihnen kann man etwas Spannendes tun. Wenn man Zellen im Labor züchtet, macht man das oft in einer flachen Schale, einer Petrischale. Man kann die Zellen aber auch auf Gelen züchten und wachsen lassen. Bei mir ging es darum, wie man auf diese Art künstliche Gewebe herstellen kann. Manche Leute benötigen neue Organe oder ein Stück neue Haut, zum Beispiel nach einem Unfall. Vielleicht könnte man künftig im Labor Organe oder Gewebe herstellen. Damals war die Forschung noch am Anfang, und ich habe überlegt, wie Zellen auf Gelen am besten wachsen.
Dein SPIEGEL: Nach dem Studium hast du begonnen, YouTube-Videos zu drehen. Wie kam es dazu?
Nguyen-Kim: Es gab einen Wettbewerb namens »Forscher tanzen«. Ich habe mir mit meiner Hip-Hop-Gruppe eine Choreografie ausgedacht, in der wir getanzt haben, wie Krebsmedikamente wirken, das war ein Forschungsprojekt von mir. Das Video haben wir auf YouTube gestellt. Mir hat das so viel Spaß gemacht, dass ich mich getraut habe, einen YouTube-Kanal einzurichten.
Dein SPIEGEL: Erinnerst du dich noch, worum es in deinem ersten Video ging?
Nguyen-Kim: Es hieß »Wie Pinguine kacken«. Da ging es um eine nüchterne wissenschaftliche Studie, die berechnet hat, mit wie viel Druck Pinguine ... na: kacken. Die können nämlich von ihrem Nest in einem bestimmten Winkel mit viel Druck ihren Kot weit wegschießen.
Dein SPIEGEL: Haben dir am Anfang viele Leute zugeguckt?
Nguyen-Kim: Erst mal nur meine Familie und meine Freunde. Beim vierten oder fünften Video kam der erste Kommentar von einer Person, die ich nicht kannte. Das fand ich verrückt.
Dein SPIEGEL: Heute moderierst du Wissenschaftsshows im Fernsehen und schreibst Bücher. Wie war das für dich, berühmt zu werden?
Nguyen-Kim: Das ist seltsam, weil ich weiterhin ein ganz normales Leben führe. Ich bin auch dankbar, dass ich so viele Menschen mit der Liebe zur Wissenschaft anstecken kann. Manchmal schreiben mir junge Leute, dass sie sich eigentlich nicht für Chemie interessieren, aber bei meiner Sendung hängen geblieben sind.
Dein SPIEGEL: Du erklärst, wie man Cornflakes und Milch am besten mischt und warum man genau dann Pickel bekommt, wenn etwas Wichtiges ansteht. Wie schafft man es, Dinge so zu erklären, dass das Zuhören Spaß macht? Und wieso können manche Lehrer und Lehrerinnen das nicht so gut?
Nguyen-Kim: Ich kann mir witzige Themen nehmen. Da habe ich natürlich einen großen Vorteil gegenüber denen, die sich an den Lehrplan halten müssen. Aber es gibt auch Lehrer und Lehrerinnen, die sich richtig ins Zeug legen und damit viel bewegen. Viele, die mit mir Chemie studiert haben, waren dort wegen einer Person, die bei ihnen Begeisterung für das Fach geweckt hat.
Dein SPIEGEL: Welchen Tipp würdest du Lehrenden geben?
Nguyen-Kim: Ich habe großen Respekt vor dem Beruf, es ist viel schwieriger, Leuten etwas beizubringen, die zuhören müssen, als solchen, die sich freiwillig entscheiden zuzugucken. Es ist immer eine hervorragende Idee, sich zu fragen, wo der Lehrplan an das echte Leben anknüpft. Ich sehe Wissenschaft überall im Alltag.
Sie bauen Protonenbeschleuniger, kartografieren Gehirne oder unternehmen Arktis-Expeditionen. In der neuen Ausgabe von »Dein SPIEGEL«, dem Nachrichten-Magazin für Kinder, erzählen zehn Forschende von ihrer Arbeit. Außerdem im Heft: Fernsehmoderatorin Mai Thi Nguyen-Kim erklärt im Kinder-Interview, warum Wissenschaft nicht nur was für Jungs ist. Und: Lasse und Amelie, beide 13, sind Speedkletterer. Worauf es bei der Sportart ankommt. »Dein SPIEGEL« gibt es am Kiosk, ausgewählte Artikel online. Erwachsene können das Heft auch hier kaufen:
Dein SPIEGEL: Es gibt Menschen, die der Wissenschaft nicht glauben. Findest du das gefährlich?
Nguyen-Kim: Das ist wirklich ein Problem. Es gibt Menschen, die ich wahrscheinlich gar nicht mehr erreiche, weil sie mir grundsätzlich nicht glauben. Aber im besten Fall erreiche ich manche schon früher – die Leute, die erst anfangen, sich zu informieren. Und die kann ich vielleicht noch mit guten Argumenten überzeugen. Ich versuche, meine Erklärungen immer nachvollziehbar zu machen, sodass man überprüfen kann, was ich sage.
Dein SPIEGEL: Welche Klischees treffen auf Wissenschaftlerinnen oder Wissenschaftler zu?
Nguyen-Kim: Ein Klischee ist: Wissenschaftler sind Nerds, die komisch aussehen und nicht wissen, wie man redet. Klar trifft das nicht auf alle zu. Aber es steckt schon ein Fünkchen Wahrheit dahinter: Dem, dessen Welt völlig von Chemie, Physik oder Mathematik bestimmt ist, ist es vielleicht unwichtig, was er anzieht, wie die Haare sitzen oder welche Höflichkeitsfloskeln er verwendet. Aber das kann man ja positiv sehen: Oberflächlichkeiten zählen manchmal weniger.
Dein SPIEGEL: Wir kennen nicht so viele Wissenschaftlerinnen und haben schon gehört, Naturwissenschaften seien eher etwas für Jungs. Was denkst du, woran das liegt?
Nguyen-Kim: Das liegt daran, dass vor nicht allzu langer Zeit Frauen gar nicht in den Bereichen gearbeitet haben. Die meisten Nobelpreisträger der Vergangenheit sind Männer. Aber nicht, weil sie besser waren, sondern weil Frauen keine Chancen hatten. Es gab eine Zeit, in der Frauen nicht studieren konnten und in der Forschung zu arbeiten für sie nahezu unmöglich war. Und auch wenn diese Zeit vorbei ist, wirkt es in der Gesellschaft immer noch nach. Nun findet aber ein Wandel statt. Grundsätzlich ist es natürlich großer Quatsch zu denken, dass Mädchen und Frauen in Fächern wie Chemie oder Physik weniger gut seien.
Dein SPIEGEL: Uns ist aufgefallen, dass man im Fernsehen eher Wissenschaftler sieht, nicht so viele Wissenschaftlerinnen.
Nguyen-Kim: Da habt ihr recht, und das sollte sich ändern. Mittlerweile gibt es nämlich sehr viele Frauen, die Chemie und andere Naturwissenschaften studieren und Fachleute auf ihrem Gebiet sind.
Dein SPIEGEL: Glaubst du, dass Mädchen und Frauen in der Wissenschaft benachteiligt werden? Wenn ja, woran merkt man das?
Nguyen-Kim: Manche Berufe sind nur schwer mit einer Familie zu vereinen. Wer etwa Professorin werden will, muss häufig umziehen und lange arbeiten. Selbst in meiner Generation wird immer noch erwartet, dass sich die Frau um Kinder und Haushalt kümmert. Männer wiederum fragt niemand, wie sie das eigentlich mit den Kindern schaffen. Dort ist oft die Frau zu Hause, kümmert sich, und wenn sie das nicht tun würde, könnte er entweder diesen Job nicht machen oder keine Kinder haben. Es ist eine große Schwäche in der Wissenschaft, dass Professuren so schlecht mit dem Privatleben und einer Familie zu vereinbaren sind.
Dieses Interview erschien in »Dein SPIEGEL« 12/2024.
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